Erinnerungen an die Kriegsjahre 1939 1945

von Werner

Als 1939 der zweite Weltkrieg ausbrach, war ich 8 Jahre alt. Viele junge Burschen und Männer mussten zum Militär einrücken. Auch mein Bruder Martin war 1941 schon dabei und kam nach Russland an die Front, von wo er erst nach 6 Jahren – davon einige in russischer Kriegsgefangenschaft – wieder nach Hause kam.

Viele junge Menschen aus unserem Ort waren im Krieg gefallen, auch mein Bruder Matthias (damals 18 Jahre alt) kam nicht mehr nach Hause zurück. Er wurde uns als vermisst in Russland gemeldet.

Im Herbst 1944 kam die Front immer näher zu uns. Es waren viele deutsche Soldaten im Ort einquartiert. Die mussten händisch den Ostwall auf den Bruckerhöhäckern graben, bei sehr schlechtem Regenwetter, es war ein sehr nasser Herbst damals. Der Ostwall sollte die Panzer stoppen. Auch die Dreschmaschinen, große Dampfer und noch viele andere Geräte wurden am Ortsrand auf die Straße gestellt, um den Feind zu bremsen. Doch das half alles nichts, sie wurden von den Panzern überrollt.

Als die Lage im Februar 1945 schon aussichtslos war, hatten sich viele Leute im Ort entschlossen, zu flüchten. Das deutsche Militär hat uns dazu geraten, denn es würde noch gekämpft werden und das könnte noch länger dauern und schlimm werden.

Deshalb entschlossen sich auch meine Eltern für die Flucht. Mein Vater hatte einen großen Pferdewagen mit einer Plane bespannt und dann mit ein paar Habseligkeiten beladen. Es wurden verlässliche Pferde eingespannt und am 23. März 1945 ging es los. Wir verließen mit ein paar anderen Familien unsere Heimat und Hab und Gut und machten uns auf den Weg in Richtung unbekanntes Ziel. Wir fuhren bis Götzendorf, dort war eine Sammelstelle. Da bekamen wir einen Trekführer, der mit uns mit fuhr. Auch da wussten wir noch nicht, wohin wir kommen. Ich hatte eine kranke Schwester, die brauchte fast den ganzen Wagen zum Liegen, wir anderen mussten einen Großteil der Strecke zu Fuß gehen. Die Fahrt war sehr anstrengend und gefährlich, 6 Tage waren wir unterwegs. Es kamen immer wieder feindliche Tiefflieger und bombardierten wichtige Stützpunkte vom deutschen Militär. Da mussten wir immer irgendwo Zuflucht suchen. Einmal waren wir über Nacht in einem Kloster, auch auf großen Bauernhöfen durften wir einstellen, um Schutz zu haben.

Wir fuhren im Kamptal den Kamp entlang in Richtung Rosenburg und Horn. Erst dann wurde uns gesagt, dass wir in die kleine Ortschaft Winkl kommen werden. Es wurden fünf Familien aus Zurndorf aufgenommen, auch wir waren dabei. Die anderen kamen 1 km weiter in die Nachbarortschaft nach Tautendorf. Anfangs waren die Leute dort sehr skeptisch, denn sie wussten ja nicht, von wo und wer wir sind. Nicht alle hatten so ein Glück wie wir und wurden so gut aufgenommen von lieben Leuten.

Wir kamen zu Frau Janda in Winkl 6, dort war in einem Raum der Kindergarten untergebracht. Als wir kamen, sagte Frau Janda zu den Kindern: „Jetzt kommen arme Flüchtlinge, die brauchen den Raum zum Wohnen.“ Die Kinder waren so lieb und hatten alle gleich angefangen, ihre Tische und Sessel auszuräumen. Sie sagten: „Jetzt kommen arme Leute, da müssen wir Platz machen, damit sie wo wohnen können.“

Winkl war ein kleines Dorf mit etwa 20 – 25 Häusern. Frau Janda, unsere Hausfrau, so nannten wir sie, war alleinstehend, ihr Sohn Karl war beim Militär. Frau Janda hatte ein kleines Gemischtwarengeschäft. Es gab dort fast alles zu kaufen von Lebensmittel bis Schuhe, Kleider, Werkzeug, Zigaretten, Getränke, Süßwaren und vieles mehr. Alles natürlich wie es damals möglich war, denn es war ja noch Krieg. 

Wir fühlten uns bald wohl in diesem kleinen Dorf, weil wir so gut aufgenommen wurden. Als wir dort ankamen, war der Krieg noch nicht zu Ende. Von zu Hause hörten wir, dass es sehr schlimm war. Es kamen russische Soldaten und plünderten die Häuser. Die Leute, die zu Hause blieben, mussten sich in Kellern und Heuboden verstecken. Besonders die Frauen und auch schon 13-jährige Mädchen hatten viel mitgemacht. Auf sie gingen die russischen Soldaten los und wollten sie verschleppen oder vergewaltigen. Das blieb uns erspart, weil wir geflüchtet sind.

Im April hörten wir, dass der Krieg zu Ende ist, aber die russischen Soldaten kamen auch nach Winkl. Wir hatten keine Angst, weil ja der Krieg bereits aus war. Doch wir täuschten uns! Am ersten Tag kamen gleich ein paar russische Soldaten in unser Haus und nahmen uns unsere zwei Pferde weg. Mein Vater wollte sich wehren, da gab der Soldat einen Schuss aus seinem Gewehr ab. Er traf sich selbst in den Fuß, da wurde er sehr wütend und wir mussten alle reißaus nehmen. Die anderen Soldaten schnappten sich die Pferde und liefen davon. Was das für meine Eltern bedeutete, war unvorstellbar. Sie fragten sich immer wieder, wie wir und ob wir überhaupt wieder nach Hause kommen.

Mein Vater fuhr mit dem Pferdewagen der Frau Janda immer für sie 16 km weit nach Horn einkaufen für das Geschäft. Auch in die Mühle nach Rosenburg fuhr er, das war sehr weit und er war den ganzen Tag unterwegs. Es war nicht so wie heute, dass die Ware geliefert wurde. Es war ja nicht viel da, daher musste vieles im Schwarzhandel gekauft werden.

Das war auch gefährlich, mein Vater fuhr trotzdem immer wieder. Frau Janda wusste das aber auch zu schätzen. Es ging uns gut, wir hatten keine Not an Essen oder sonst. Sie gab uns Lebensmittel, Eier und noch vieles mehr. Auch eine Kuh hatte sie für uns gekauft und gesagt, mein Vater soll sie füttern. Meine ältere Schwester musste sie melken, damit wir für unsere kranke Schwester Milch hatten. Frau Janda war sehr besorgt um uns, sie kaufte auch das Futter. Mein Vater ging zu den Bauern Wiesen mähen, dafür bekam er Heu und somit hatten wir alles, was wir brauchten.

Winkl war ein Bauerndorf, meine ältere Schwester und ich gingen auch zu den Nachbarn arbeiten. Die hatten solche Mädels wie wir waren. Für mich war es mehr Spaß als Arbeit.

Da eines der Mädchen auch wie ich erst 13 Jahre alt war, hatten wir halt auch manche Schelmerei in uns. Zum Beispiel, die Leute, die in das Geschäft der Frau Janda einkaufen gingen, hatten meistens nur Holzpantoffel an. Die ließen sie vor der Geschäftstüre stehen und gingen mit den dicken, selbst gestrickten Socken hinein. Uns fiel natürlich auch wieder ein Blödsinn ein. Meine Freundin und ich nahmen die Pantoffel und warfen sie in die in der Nähe wachsenden Brennessl hinein. Wir versteckten uns und lachten, weil die Frauen in die Brennessl hineinsteigen mussten, um zu ihren Pantoffeln zu kommen. Uns fiel halt immer etwas Dummes ein, wofür wir natürlich nicht gelobt wurden.

Ich hatte schnell Anschluss im Dorf gefunden und hatte bald Freundinnen. Mit den Mädels ging ich auch in die Kirche, die war 3 km entfernt in einem anderen Dorf, Röhrenbach. Wir sagten anfangs nicht, dass wir evangelisch sind, denn die kannten keinen anderen Glauben und wir wussten ja nicht, wie sie reagieren würden. Später sagten die Leute dann: “Wir dachten, irgendetwas stimmt mit den Flüchtlingen nicht. Sie sind zwar nette Leute, aber sie gehen nie in die Kirche!“

Mittlerweile war es schon Mai 1945 geworden und der Krieg war zu Ende. Wir dachten, jetzt brauchen wir keine Angst mehr zu haben, aber wir hatten uns getäuscht. Die Leute mussten immer noch Angst vor Plünderungen und die Frauen vor Verfolgung der russischen Soldaten haben. Die Mädchen versteckten sich in einem kleinen Gehöft im Wald. Mich wollten sie nicht mitnehmen, sie sagten ich sei noch zu klein und mir würden die Russen nichts tun. Aber ich blieb trotzdem nicht zurück. Es ging alles gut und es ist niemandem was passiert.

Meine Eltern und andere Zurndorfer dachten immer schon ans heimfahren, obwohl wir nicht wussten, was wir zu Hause antreffen würden. Wir bekamen ja keine Nachrichten von daheim. Das wir jetzt keine Pferde mehr hatten, war ein großes Problem.

Unser ukrainischer Arbeiter, der mit und mitgefahren war, brachte uns ein krankes Pferd, das von den russischen Soldaten zurück gelassen wurde, weil es nicht mehr weiter konnte. Mein Vater hat dieses kranke Pferd mit viel Liebe und Geduld aufgepäppelt, so dass wir wenigstens mit einem Pferd nach Hause fahren konnten.

Nun kam schon der Monat Juni 1945, da waren wir bereits drei Monate in Winkl. Alle fünf Zurndorfer Familien beschlossen gemeinsam, dass wir jetzt nach Hause fahren, egal was wir dort antreffen würden, wir wollten nur zurück in die Heimat.

Es war immer noch gefährlich auf den Straßen und mit nur einem Pferd als Gespann ging es sehr langsam. Wir waren drei Tage auf der damaligen Reichsstraße unterwegs, ohne viel Aufenthalt. Als wir uns in Winkl beim Bürgemeister verabschiedet hatten, sagte dieser:

„Ihr seid brave, anständige Leute und wir wissen schon, warum ihr nicht in die Kirche gegangen seid. Wir wünschen euch viel Glück und eine gute Heimreise.“

Frau Janda tat es sehr leid, dass wir schon nach Hause wollten. Sie hat sich schon an uns gewöhnt, nun war sie wieder allein. Ihr Sohn Karl, den wir damals nicht kannten, war noch beim Militär, sie wusste nicht wo er war und ob er noch einmal nach Hause kommen wird. Auch uns fiel es schwer, von ihr Abschied zu nehmen. Sie war eine sehr gute Frau und hat uns lieb aufgenommen.

Am 20. Juni 1945 war es dann soweit, und obwohl wir uns auf unsere Heimat freuten, traten wir mit Tränen in den Augen die Heimreise an. Frau Janda wollte uns soviel mehr mitgeben, als wir nehmen konnten. Einen Sack Zucker und einen Sack Mehl gab sie uns mit. Sogar die Kuh sollten wir mitnehmen, aber das ging nicht. Obwohl die Heimreise kürzer war, als die Hinfahrt durch das Kamptal hätte das Tier die Strapazen nicht ausgehalten. Es war eine spannende und aufregende Heimreise, wir wussten ja nicht, was wir zu Hause antreffen würden und ob überhaupt etwas in unserem Haus noch da sein wird.

Als wir ankamen, war die Wohnung leer, wir mussten am Boden schlafen, die Lampen waren kaputt oder nicht mehr da. Die Ställe waren leer, weder Kühe noch Schweine oder Hühner waren da. Am nächsten Tag kam unser Nachbar und sagte, er habe von uns eine Kuh aufgenommen, die wird er uns zurückgeben. Die anderen Tiere wurden einfach auf die Straße getrieben und keiner wusste, wohin sie kamen.

Wir freuten uns, dass wir nun wenigstens eine Kuh hatten. Doch es war nicht einfach, es war ja kein Futter da. Die Wiesen waren schon gemäht und die Ernte war auch schon vorbei. Also mähte mein Vater alle Gräben und kleine Stücke Wiesen, damit wir Futter für die Kuh hatten.

Der Zucker und das Mehl von Frau Janda hat uns sehr geholfen. Wir konnten uns für 1 kg Zucker drei Hühner eintauschen. Im Keller fanden wir noch eine große „Tesn“ (Dose) Schmalz (ca. 30 Liter), die meine Mutter vor der Flucht versteckt hatte. Sie wurde von den Russen nicht gefunden, weil meine Mutter einen großen Bottich darüber gestürzt hatte. Auch für Schmalz konnten wir Verschiedenes eintauschen.

Noch im selben Jahr kamen die Waldviertler, wie sie es versprochen hatten, auf Besuch nach Zurndorf, auch Frau Janda kam zu uns. Es war sehr umständlich, mit dem Zug von Horn zu uns zu kommen. Die Bahnverbindung war schlecht und auch noch gefährlich, weil noch immer die russische Besatzungsmacht da war.

Aber aus Neugier, wer wir wirklich sind, nahmen sie die schwierige Fahrt auf sich. Sie blieben einige Tage in Zurndorf, obwohl wir ihnen nicht viel bieten konnten, denn wir waren noch sehr arm. Sie brachten uns einige Lebensmittel mit und waren angenehm überrascht, dass alles stimmte, was wir von unserer Heimat erzählt hatten. Von da weg blieb unsere gute Freundschaft bis heute erhalten. Ich werde diese Familie nicht vergessen, denn es waren gute Menschen, die uns aufgenommen hatten, als wir in großer Not waren.

Es kam der Herbst 1945 und die Felder lagen alle noch brach, weil wir keine Pferde und kein Gespann hatten, um sie zu bearbeiten. So musste mein Vater einen Acker (3 Joch) für zwei Pferde aus Gols eintauschen.

Mein Bruder war inzwischen aus der Gefangenschaft zurück gekehrt. Da zu dieser Zeit viele Pferde gestohlen wurden, beschloss er, im Stall zu übernachten, damit das uns ja nicht passiert. Eines Abends ging er nur für kurze Zeit ins benachbarte Gasthaus. Als er um 21 Uhr zurück kam, ging er sofort wieder in den Stall. Da musste er sehen, dass beide Pferde weg waren. Er war ein Pferdenarr und weinte bitterlich, da wir nun wieder kein Gespann hatten. Die Diebe, die die Pferde angeblich nach Ungarn gebracht hatten, wurden nie gefunden, aber im Ort wusste man ungefähr, wer die Pferdediebe waren.

Nun standen wir wieder ohne Pferde da. Wir mussten uns wieder auf die Suche nach einem Gespann machen. Wieder mussten wir drei Joch Ackergrund hergeben, dieses Mal für zwei Zugochsen aus Gols. Damals gab es wenig Geld, deshalb musste alles im Tauschweg gehandelt werden.

So ging es in sehr schwierigen Jahren langsam wieder aufwärts, es dauerte noch weitere zehn Jahre, bis wir uns einen kleinen Traktor leisten und uns langsam etwas aufbauen konnten.

© Ella Pamer (geb. Weiss,1931), 2018