Der fragende Hans

von Werner

Es war eine Zeit voll Leid und Trauer, als die Türken gegen Wien zogen. Man schrieb das Jahr 1683. An beiden Ufern der Donau wälzten sich die bunten Heerhaufen, für die der großmächtige Sultan Muhammed vom Goldenen Horn bis an den Indus, von der Ungarnsteppe bis ans arabische Meer Rekruten hatte ausheben lassen, gleich einem finsteren Gewitter herauf. Raubend und mordend, sengend und brennend erreichten sie am 1. Juli den Heideboden.

Das kaiserliche Heer lagerte vor Altenburg. Aber es scheute die Berührung mit den Heiden, offenbar aus Angst, sich die Hände zu beschmutzen; darum machte es bloß ein verkehrtes Kompliment nach Osten hin und verzog sich manierlich, zuerst auf Jahrndorf und später auf Preßburg zu. Auf diesem Tändelmarsch ließ es sich von den Ochsen und Kühen, Pferden und Schafen und dem Geflügel der Heidebauern begleiten, und um den Türken ganz grausam zu schädigen, nahmen sie auch der Heider Korn und Mehl, Schmalz und Wein, Hausrat und Kleider, kurz alles mit, bei dessen Anfassen sich die Hände rein erhalten zu können vermeinten.

Selbstredend barsten die nachdrängenden Barbaren schier vor Wut, als sie eine leere Schatzkammer vorfanden. Die Bevölkerung war größtenteils geflohen, dennoch gab es viele, die entweder die nahende Gefahr nicht glaubten oder mit unbezwingbarem Hang an der Scholle hafteten. Sie wurden zum Teil niedergesäbelt, zum Teil ins Sklavenjoch gestoßen und in ferne Regionen getrieben. Hunderte von Bürgern verlor jede Gemeinde. Manche flüchteten ins Röhricht des Neusiedler Sees und ertranken, andere erwarteten im Gotteshause unter Gesang und Gebet die große Not und wurden samt den Gotteshäusern zu Opfern der Mordbrenner.

Am 1. und 2. Überfluteten feindliche Horden den Seewinkel und ließen der Reihe nach alle Dörfer, Mönchhof, Podersdorf und Winden voran, in Flammen aufgehen. Gleichzeitig bescherten sie Zurndorf an der Wiener Straße dasselbe Los. Bald danach stöberte der Großwesir Kara Mustapha kreuz und quer über die Heide den roten Hahn, dass auf einmal zwanzig Gemeinden wie Fackeln des Weltgerichts zum Himmel loderten und der weite Grund in einem schaurig bewegten Meer aus Feuer und Blut versank.

Durch dieses Werk tierhafter Gewalttat war auch der Zurndorfer Grobschmied Hans Hinkel heimatlos geworden. Seine Söhne hatte die Horde erschlagen und seine Töchter verschleppt, sein Haus lag in Trümmern, seine Äcker verdarben unter den Hufen arabischer und tatarischer Pferde, seinen Garten verheerten baktrische Trampeltiere in Gemeinschaft mit persischen Eseln, und sein Weib irrte irgendwo in der Fremde umher, ein Flüchtling unter Leuten, die vielleicht morgen auch schon fliehen mussten.

Von Kind auf beinahe hatte man den Schmied wegen eines Redebrauches gemein nur den fraglichen Hans geheißen. Denn als ihn der Schulmeister einmal in der Rechenstunde aufrief: “Hans, wieviel sind zwei mal zwei“ Antwortete er nach einigem Wägen: „Es fragt sich, ob der Wagner rechnet oder der Schmied. Je danach sind es fünf oder sechs!“ Der Lehrer lachte über die Schlauheit des Knaben. Er verstand die Antwort, wie sie gemeint war, dass sich nämlich der Wagner für das Befelgen von vier Wagenräder gern auch ein fünftes, der Schmied für das Beschuhen derselben Räder gerne zum fünften sogar noch ein sechstes bezahlen ließ.

Auch als Hans zum starken, prächtigen jungen Mann geworden war, und im die Liesel vom Fuhrmann Pleß der er an heimeligen Fensterlabenden immer häufiger an der Scheibe klopfte, den Mund ans Ohr brachte: „Was ist eigentlich deine Absicht, Hans?“ begann er seine Antwort mit den stehenden Worten seines Gebrauchs: „Es fragt sich…“ Was er hier in Frage stellte, ist ja nicht genau bekannt geworden, wahrscheinlich wollte er wissen, ob sie ihn ohnehin so liebhabe, dass ihre Liebe auch für zwei, drei Söhnen und ebenso viele Töchterlein ausreiche. Liesel wird sich wohl für tauglich geachtet haben zur Bejahung einer solchen Frage, denn beide wurden ein Paar. Und keines bereute seine Wahl. Sie lebten im glücklichen Einvernehmen und erzogen drei Buben und zwei Mädchen in Ehren und für eine schöne Zukunft.

Und wieder als sein Ältester schon an der Esse stand und nach einer wohlgestalteten Jungfrau ausguckte, und gleichsam von außen her, nur den Ohren des Vaters vernehmlich, ein zögerndes Klopfen ertönte: „Was nun?“ brummte er mit stiller Wehmut in den Bart: „Es fragt sich nur… ob es für den Alten seine andere Verrichtung mehr gibt als Kästen braten in dumpfer Winterstube?“ Oft und oft hatte er sich der Wendung bedient, begründet und grundlos, wie es kam. So war aus einer Angewohnheit ein Name gewachsen und aus einem schlichten Schmiedemeister ein Begriff geworden: „der fragliche Hans.“

Nun stand aber der fragliche Hans mit grauem Haaren die Augen voll Tränen und ein blutendes Herz in der Brust, auf den Resten seines zerbrochenen Glückes und hatte die stehende Rede vergessen. Das Schilf des Sees, in dem er sich eine Weile verborgen gehalten, grüßte wie ein ferner lieber Traum in die erschütternde Gegenwart: „die ganze Gemeinde Zurndorf ein Berg von Schutt und Asche, und keine lebende Seele außer ihm auf diesem Gottesacker vernichtender Lebensfrüchte. „Mein Weib! Meine Kinder!“ stöhnte der bebende Greis. Lang stand er da, das Gesicht in den Handflächen. Nur mitunter hob er den Kopf und überblickte die grauenhafte statt in ihrem fortschwelenden Trauer Gewande. Es war ein Anblick, bei dem ein Herz, hart wie Stahl, brechen, dagegen der sanfte Wille hart wie Stahl werden konnte.

Plötzlich sank der Alte auf die Knie und hob die gefalteten Hände empor. „Großer Gott im Himmel! Es ziemt sich nicht, dass ein Erdgeborener dein Wort bezweifle. Aber irrtest du nicht, du Weiser ohne Gebrechen als du sprachst: „Die Rache ist mein“ Nein, nein und tausendmal nein! Es kann nicht sein, dass du ohne Irrtum gesprochen hättest; denn heute, oh Herr, heute gehört die Rache mir, mir allein, mir ganz allein!“  Und er sprang wieder auf und trug seine Augen, in denen das wahnsinnige Feuer der Rache glühte, über sein zertrümmertes Haus hin, als suche er etwas, das nicht verbrannt und verloren sein konnte unter den glosenden Balken und den glühenden Steinen. Und seine wühlenden Hände fanden in dem Schutte unversehrt den Schatz, das Mittel seiner Rache: „zwei mächtige Eisenstangen, durch deren glühendes Ende er sonst bei freudigem Gelegenheiten den Pöller hatte donnern lassen.   

Der Schmied lag an der Straße, in einem scharfen Knie. Vor ihr mussten alle Wienfahrer um die Ecke. Auf ihre Lage baute der fragliche Hans seinen Plan. Er trug Balken und Steine in Massen zusammen und schuf ein Stück Straße vor dem Knie zu einem Engpass um, dass sie nur ein Reiter nach dem anderen passieren konnte. Hinter dem Passe aber entfachte er einen verborgenen Feuerbrand und stellte die beiden Eisenstangen darein. Daneben legte er sich auf Lauer. Und die abendliche geruhsame Sonne lächelte im stillen Einverständnis mit ihm, sie wickelte sogar ihre linden Strahlen um die Lanzenspitzen, die in der Ferne auftauchten, und fädelte den Feind sanft und gütig an den lauernden Tod heran. Denn der fragliche Hans in seinem Ungestüm war der Tod selbst, der Massentod in einer einzigen Person. Und weder Büchse noch Pulver brauchte der.

Und als der erste Türke um die Ecke bog, sauste ihm die weißglühende Eisenstange mit einer Wucht an den Kopf, dass er lautlos zur Seite sank und von seinem erschrockenen Gaule in wilden Sätzen am Steigbügel eine Strecke fortgerissen wurde. Dem zweiten geschah es ebenso, desgleichen dem dritten und den folgenden. Und keiner ahnte im Rücken des Vordermannes, was diesem an der Ecke geschehe. Lautlos übte der Alte sein Rächer Amt. So lautlos und so flink, dass er immer noch Zeit fand, die Stangen zu wechseln und sich auch Schweiß und Blut mit dem Ärmel aus den Augen zu wischen. Schon hatte er zwei Duzend Reiter aus dem Sattel geholt und schon ein halbes Hundert über die Grenzscheide befördert, dahinter kein Lebender mehr stand, sondern Allahs prophetischer Bote mit dem bitteren Todestroste, schon stieg die Zahl auf siebzig, schon waren es Achtzig minder drei.

Da nahte das Verhängnis im unseligen Drange zum Fragen. Der siebenundsiebzigste Türke hatte offenbar seinen Turban siebenmal um den Kopf geschlungen, dass ihm der Hieb des fraglichen Hans noch Raum zu einem kurzen aufbellen ließ. Hans hörte ein verschwommenes Wort von den Heidelippen hallen, wie wenn es Wien gelautet hätte. Er schätzte, der Heide wollte erfahren, wie weit es noch nach der Stadt des Glanzes und der Pracht, des Wissens und der Macht sei. Ein heftiger Unwille bäumte sich in ihm über die verfluchte heidnische Begier, der Unwille, der die Verdammung zur Schweigehaft komme, was da wolle verachtet, der sich befreien und sich laut kundgeben wolle, in einem Ruf, einem Schrei, einem Brüllen. Hans riss denn auch den Mund auf und schrie: „Es fragt sich… ob euch Räuber nicht alle die Hölle frisst bis dahin?“  

Ein Aga mit Ohren wie ein Luchs war der nächste in der Enge. Er hatte den Schrei gehört und ahnte nichts Gutes. Grässlich spornte er seinen Hengst, schleuderte sich jedoch, wie das Ross um die Ecke flog, mit einem kühnen Satz rückwärts über die Kruppen zur Erde. Ein einziges Mal wucherte Hans daneben und das geschah jetzt. Er traf den leeren Sattel und keinen Türken. Dagegen verspürte er, noch ehe er die verbogene Glutstange wieder hochbrachte, die Klauen eines rasenden Panthers an der Kehle. Daneben blitzte ein krummes Messer, und im nächsten Augenblick sank der starke Mann ohne Kopf zu Boden. Und das war schade, jammerschade für die bedrängte Christenheit. Schuld aber trug einzig und allein das dumme Fragen. Denn hätte Hans dem Höllenschlund nicht nachgefragt, der sich zwischen Zurndorf und Wien für die Heiden öffnen sollte, so hätte er im Zurndorfer Engpasse die ganze Armee des Sultans Mann für Mann aufgerieben oder wenn schon nicht die ganze, so doch die halbe, die nämlich am rechten Donauufer marschierte. Viel Blut wäre erspart geblieben, die vom Kaiser schmählich verlassene Stadt Wien wäre großer Sorge entronnen und hätte dem fraglichen Hans aus Dankbarkeit auf ihrem Hauptplatze ein Denkmal errichtet, schöner als der Stephansdom ist.

Eine burgenländische Erzählung von Matthes Nitsch.

Quelle: Alpenländische Rundschau Folge 545, Samstag 24.  März 1934 Seite 10

Danke an Ewald Metzl für die Aufbereitung der Geschichte!