6. Neuerlicher Fluchtversuch

von Werner

Uns wurde gesagt, dass wir als Strafe für Wiedergutmachung arbeiten müssen. Als wir uns aufgeregt hatten, bekamen wir die Folgen zu spüren.

Zur Strafe mussten wir um 24:00 Uhr antreten. Wir wurden gefilzt und mussten bis 5:00 Uhr früh im Hof stehen. Dann durften wir uns Krautsuppe holen und um 6:00 Uhr zur Arbeit ausrücken. An Arbeiten dachte keiner, nur wie wir hier wegkommen könnten. Mein Kamerad sagte: „Probieren wir es noch einmal, lass uns abhauen“. Ich stimmte ihm zu. Wir gaben uns die Hand und versuchten es zum dritten Mal. Beim Luftschacht, der zugleich ein Notausgang war, begann unsere Flucht. Fünf Kilometer vom Haupteingang entfernt, wo der Posten stand, kletterten wir die Eisenleitern hoch und fuhren dann 500 Meter mit dem Notkorb hinauf. Zum Glück hat uns niemand gesehen. Anschließend sind wir in das Dorf gegangen, wo wir uns bis zum Abend versteckt hatten. Als es dunkel war ging es weiter. Die meiste Zeit waren wir zu Fuß und bei Nacht unterwegs und bettelten uns durch. Ab und zu fuhren wir ein Stück mit der Bahn. Einmal glaubten wir einen Friedhof zu sehen, aber als wir näher kamen, waren es runde Bienenstöcke von ungefähr 1, 30 Meter Höhe. Mein Kamerad öffnete einen und nahm die Waben heraus. Sie schmeckten sehr gut und knirschten zwischen den Zähnen. Meinen Kameraden hat eine Biene in den Mund gestochen. Er konnte kaum sprechen und rang nach Luft. Ich hatte große Angst, denn ich dachte, er würde ersticken und ich wäre dann allein. Nach kurzer Überlegung holte ich von der nahegelegenen Lehmgrube (Wassertümpel) etwas Lehm und legte ihn nass um den Hals meines Freundes. Danach haben wir uns verkrochen. Wieder hat uns niemand gesehen.

In der nächsten Nacht ging es weiter. Wir haben meistens ältere Leute, deren Häuser einzeln standen angebettelt. Wir bekamen fast immer etwas, obwohl sie selber arm waren. Dörfer und Städte haben wir gemieden. Nach 17 Tagen kamen wir in Beserabien an. Abseits vom Dorf stand eine verwahrloste Hütte, in der eine Madowanerin lebte. Wir durften einen Tag bei ihr verbringen. Sie gab uns zu essen und erklärte uns den Weg zur Brut bei Jaschi, den Grenzfluss zu Rumänien. Die 22 Kilometer entfernte Grenze bei der Brut erreichten wir nach Mitternacht. Man konnte noch die Schützengräben von der Schlacht sehen. Mein Kamerad hatte Angst vor dem Wasser, denn er konnte nicht schwimmen. Der Fluss war zirka 50 Meter breit. Ich band meinem Freund ein Kabel, welches wir zuvor gefunden hatten, um die Brust, nahm das andere Ende und ging in das Wasser. Es reichte mir bis zum Hals. Wir waren nicht mehr weit von der rumänischen Grenze entfernt, da gab es einen Knall. Eine Rakete erleuchtete alles. Gleich darauf kamen zwei Motorboote mit Soldaten auf uns zu und haben uns heraus gefangen. Das erste was sie fragten war: „Wo ist Telefon?“ „Kein Telefon, Kamerad“, gab ich zur Antwort. Ich konnte es kaum fassen, so nahe am Ziel dachte ich, kaum 10 Meter vom rumänischen Ufer entfernt. Aus war der Traum von der Freiheit. Es folgte ein Verhör durch einen Grenzoffizier. Anschließend brachte man uns nach Kischinew, der Hauptstadt von Bessarabien in das Hauptlager. Dort wussten sie schon, woher wir kamen und sperrten uns erneut ein. Nach neun Tagen kamen drei Soldaten und holten uns ab. Wir wurden gefesselt und nach Stalino und von dort nach Michalovce gebracht. Dann kamen wir in die Garnison, wo uns der Posten mit Schlägen in Empfang nahm. Ich wurde so arg geschlagen, dass ich den Mund nicht öffnen konnte. Danach brachten sie mich zurück in das Lager. 21 Tage bekam ich Katzer, bei Wasser und 400 g Brot am Tag. Hätten uns die Köche nicht mit ein paar Tricks etwas Essen zukommen lassen, wären wir verhungert. Wir mussten uns am Schandplatz vor dem Lager nebeneinander aufstellen, vor Personal und Lagerkameraden. Der Politoffizier schrie: „Schaut euch nur an wie sie aussehen, so ergeht es jedem der fliehen will, denn aus Russland kommt keiner raus!" Wir haben es erlebt, sogar im Wasser, so nah am Ziel, als wir uns schon in Sicherheit fühlten. Ich wurde von meinem Kameraden getrennt, wohin er kam, habe ich nicht erfahren. Wir konnten uns nicht mehr verabschieden. Hoffentlich hatte er mehr Glück als ich. Ich kam wieder in die Strafkompanie, welche in die Grube zu den gefährlichsten Arbeitsplätzen eingeteilt wurde. Es wurden fast täglich Männer schwer verletzt und es gab auch Tote. Mit ungutem Gefühl fuhren immer wir wieder in die Grube.

Am 15. Dezember 1948 hat es mich erwischt. Nach einem fürchterlichen Krach wurde ich verschüttet und bewusstlos. Ich wurde unter einer großen Steinplatte eingeklemmt. Mein Glück war, dass auf einer Seite Werkzeug lag, sonst wäre ich zerquetscht worden. Nach 8 Stunden wurde ich befreit und in die Polizeiklinik nach Stalino gebracht. Ich hatte Oberschenkel und Rippenbrüche, außerdem war mein Brustkorb gequetscht.

Furchtbare Schmerzen musste ich ertragen. Als ich auf dem Operationstisch lag, sah der blonde Arzt meine Blutgruppennarbe und sagte: „Das ist ja einer von der 44., was machen wir mit dem?“ Darauf antwortete der kleine Mongolen-Arzt, „Dem schneiden wir die Haxn ab, der marschiert nicht mehr gegen uns.“ Ich erschrak sehr und wurde wieder bewusstlos. Als ich erwachte lag ich in einem Zimmer und war eingegipst. Im selben Zimmer lag noch ein Mann. Ich musste meine persönlichen Daten bekannt geben. Auch den Namen und die Adresse meines Vaters wollten sie wissen. Sie fragten mich, wo in Ungarn, Hegyeshalom liegt. Zirka 200 Kilometer von Budapest, an der Grenze zu Österreich, Richtung Wien gab ich ihm zur Antwort. Als der Mann, der in meinem Zimmer lag, das Wort Wien hörte, flog seine Holzprothese an meinem Kopf vorbei. Sie brachten ihn weg und ich schlief ein. Als ich später aufwachte, saß der Mann neben meinem Bett und rauchte. Er hielt mir eine Zigarette an den Mund und entschuldigte sich für den Vorfall. Er konnte gut Deutsch und erzählte mir, dass er von Woronesch bis Wien gekämpft hatte und in Wien seinen Fuß verloren hätte. Schwer verwundet, brachten ihn seine Kameraden in das Haus eines Arztes. Dieser trennte den Fuß nicht fachgerecht ab, sodass er furchtbare Schmerzen hatte und nachoperiert werden musste. Ich habe erfahren, dass er Direktor von einer Kohlengrube war. Er war ein guter Mensch, seine Frau und seine Tochter besuchten ihn täglich. Sie brachten ihm immer etwas mit. Auch für mich hatten sie oft etwas dabei. Die Ärzte und Schwestern waren alle gut zu mir und haben mich oft mit den russischen Worten „Skora dom moya“, was soviel heißt wie ihr kommt bald nach Hause, getröstet.

Als ich zurück in das Lager kam, musste ich nicht mehr arbeiten, da ich Invalide und gehbehindert war.

Im Januar 1949 fuhren Deutsche nach Hause. Da wir bleiben mussten, beschlossen wir, in den Hungerstreik zu treten und blieben im Lager. Es kam eine Kommission aus Stalino, wo auch ein General dabei war. Der sagte: „Ihr seid doch alle Soldaten gewesen und wisst, dass ihr gehorchen müsst. So lange bis Ablöse kommt müsst ihr bleiben. Ich gebe euch mein heiliges Ehrenwort, in drei Wochen könnt ihr nach Hause.“ Wir gingen guter Hoffnung wieder zur Arbeit.

Ich muss auch erwähnen, dass wir 1948 nach Hause schreiben durften. Lange bekam ich keine Antwort. Irgendwann erfuhr ich dann, dass meine Eltern, Geschwister und weitere 1.800 Leute aus unserem Dorf vertrieben wurden. Die Menschen hatten alles verloren. Ihre Häuser und noch viel schlimmer ihre Heimat. Ich wusste nicht wo meine Familie war.

Teil 1: Meine Schicksalsjahre 1944-1953

Teil 2: Transport ins Gefangenenlager

Teil 3: Die Fluchtversuche

Teil 4: Not macht erfinderisch

Teil 5: Arbeit im Kohlebergwerk

Teil 6: Neuerlicher Fluchtversuch

Teil 7: Transport in Richtung Heimat

Teil 8: Der 4. Oktober 1953 - Es geht endlich nach Hause

Quelle: Matthias Schmitzhofer